Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Biopsychosoziale Psychiatrie

Das "biopsychosoziale Modell" war ein Leitmotiv für die Psychiatrie der neunziger Jahre. Diese idealtypische Modellvorstellung von Gesundheit und Krankheit beschreibt biologische, psychische und soziale Aspekte nicht nur additiv. Vielmehr handelt es sich um ein Modell der Wechselbeziehungen zwischen Körper und Geist im sozialen Kontext. Das Modell verspricht einen theoretischen Konsens sowie eine integrative Praxis, also ein mehrdimensionales Gegenstandsverständnis, eine plurale Methodologie, eine multiprofessionelle Praxis und arbeitsteilige Forschung. Diagnostik und Therapie sollten "simultan" auf jeder der drei Dimensionen zugleich durchgeführt werden (Pauls 2013). Das Modellwird seit den achtziger Jahren international diskutiert.

Welche Bausteine existieren?

Bereits in den siebziger Jahren kannte man multifaktorielle Störungsmodelle. Beispielsweise berücksichtigt das 1977 von Joseph Zubin vorgestellte "Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell" der Schizophrenie sowohl vorgeburtliche Dispositionen als auch lebensgeschichtliche Umstände, deren Wechselwirkung störungsauslösend sein könne. Ebenfalls in den siebziger Jahren wurde die "operationale Diagnostik" weiterentwickelt, mit beschreibenden Kriterienkatalogen und einer multiaxialen Klassifikation, die medizinische Diagnosen, Behinderungen und psychosoziale Belastungen mit einbezieht (ICD; DSM).

Weitere Bausteine sind öffentlichkeitswirksame Anti-Stigma-Kampagnen, die psychosoziale Krisen- und Belastungsforschung samt der ressourcenorientierten Stressmodelle, der Recovery-Ansatz (Amering und Schmolke 2012) und sowie Aaron Antonovskys (1997) Konzept der "Salutogenese" mit wegweisenden Einsichten über die Entstehung von Gesundheit.

Störungsspezifische Behandlungsleitlinien

Im Jahr 1994 wurde die Nervenheilkunde in die Gebiete "Neurologie", "Psychiatrie und Psychotherapie" sowie "Psychosomatische Medizin" aufgeteilt. Störungsspezifische Behandlungsleitlinien integrieren nun sozio- und psychotherapeutische Verfahren.

Ein Beispiel ist die schulenübergreifende "Dialektisch-behavioraleTherapie". Das Verfahren wurde seit den achtziger Jahren von der amerikanischen Psychologin Marsha M. Linehan (1996) – selbst psychiatrieerfahrenen – zur stationären Behandlung von chronisch suizidalen Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt. Nach der "kognitiven Wende" in der Psychologie der siebziger Jahre ist die Verhaltenstherapie in den Kliniken gestärkt worden (etwa "Psychoedukation"), während tiefenpsychologische Verfahren eher im ambulanten Bereich angewendet werden.

Dominanz der Neurobiologie

Schon in den neunziger Jahren war fraglich, ob das biopsychosoziale Modell tatsächlich die verschiedenen Theoriesprachen, Forschungsmethoden und Bewertungskriterien miteinander vereinbaren kann. Im beginnenden 21. Jahrhundert wird die psychiatrische Forschung von der Neurobiologie dominiert. Neurowissenschaftliche Ansätze werden politisch gefördert, die Hirnforschung ist zur Leitwissenschaft geworden. Bildgebende Verfahren (etwa die Kernspin- oder Magnetresonanztomographie) ermöglichen neue Einsichten in veränderte Funktionsweisen des Gehirns bei psychischen Störungen.

Die Grundlagenforschung stützt sich nun zunehmend auf molekulargenetische oder neuropsychologische Hypothesen. Sie verweist damit nicht nur auf die materielle Basis des Geistigen, sondern wirft auch Fragen zur Natur des freien Willens auf, erfasst die Bedeutung des Unbewussten, entwickelt Modelle der sozialen Wahrnehmung und versucht, das Leib-Seele-Problem neurophilosophisch zu begreifen (Fuchs 2008). Solch grundlegende Fragen zum Verhältnis von Natur und Kultur, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft wurden in der gesamten Geschichte der Psychiatrie und ihrer Vorläufer immer wieder aufgeworfen.

Die heutigen Diskussionen über biopsychosoziale und salutogenetische Handlungsmodelle oder Partizipation, Empowerment und Nutzerperspektive sind nur die gegenwärtige Form dieser traditionellen, die Identität des Fachs prägenden Auseinandersetzungen. Und auch zukünftig werden wohl jene Grundfragen und ihre praktischen Folgen eine Herausforderung für eine dem "Gegenstand" der Psychiatrie, den schwer psychisch leidenden Menschen, angemessene Theorie und Praxis bleiben.

Literatur

  • Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit.Tübingen.
  • Fuchs, T. (2008): Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart.

Internet

Letzte Aktualisierung: 10.04.2024